Mein Kerbholz

Man müßte es festhalten können, es so in der Erinnerung behalten können.
Zum Beispiel die besonderen Tage oder auch Stunden aus der „glücklichen Kinderzeit“. Bei „glücklich“ zögere ich schon. Kann man unsere Kindheit glücklich nennen? War sie schön oder herrlich?
Vieles ist aus dem Gedächtnis entschwunden. Nur einzelne Lichter glühen auf, wenn ich gedanklich, wie mit einem Scheinwerfer, diese Zeit beleuchte.
Ich möchte es festhalten, so wie im Urlaub mit der Kamera und dem Reisetagebuch und dem anschließenden Urlaubsalbum. Doch auch das schönste, stimmungsvollste Urlaubsbild vermag nicht den Geruch des Kleefeldes, das Brennen der Sonne auf der verbrannten Haut oder den grauen Kloß im Magen, weil es das Abschiedsbild ist, auszudrücken. Und trotzdem möchte ich es festhalten. „Es“ ist nicht alles, „es“ soll das sein, was nachbleibt, was weiterklingt, was ich erinnern möchte.
Ich möchte jedesmal eine Kerbe in mein Kerbholz schneiden. Kein Tagebuch, keine Memoiren und auch kein Poesiealbum, sondern ein Kerbholz:

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Immer wiederkehrende Erinnerung an den Bolero

Im September 1988 waren wir in Tunesien in der Oase Zarzis. Im Reiseprogramm erwartete uns eine Wüsten Safari mit Landrovern. Immer 9 Touristen und der einheimische Fahrer. Eng war es, robust war es, heiß war es. Die Mitfahrer waren jung und gut drauf, auch mit dem Mundwerk. Der Tunesier sprach und verstand unser Deutsch und ließ eine Kassette mit seiner arabischen Folklore laufen. Für unsere ungeübten Ohren sehr gewöhnungsbedürftig. Einer der jungen Burschen traute sich und fragte den Fahrer: „Haste auch europäische Sachen auf deiner Kassette?“ Hatte er! Den Bolero von Ravel. Und die Piste wurde immer schlechter und der Bolero nahm kein Ende. Und wir flogen auf unseren Sitzen umher. Da meldete sich unser „Retter“ wieder: „Wenn du mit deiner Musik besser fahren kannst, mach den blöden Bolero bitte wieder aus!“ Großes Gelächter! Auch der Fahrer griente sich in den Bart.
Zu Hause und seit etlichen Jahren hören wir tagsüber das Klassik Radio. Und da kommt mit konstanter Regelmäßigkeit Mozarts Kleine Nachtmusik, Beethovens 5., Smetanas Moldau, Händels Feurwerksmusik und, und, und… und eben der Bolero von Ravel. Ich drehe ihn dann leiser und sitze in der Tunesischen Wüste im Landrover.

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Zwangsneurosen

Ich kann mich nicht dagegen wehren, sie verfolgen mich
schon seit Jahren. Es sind, so vermute ich, Fehlzündungen meiner Psyche.
Zum Beispiel: Monlein hat nippse mach
Meine Familie war wieder zurück nach Hamburg gezogen. Ich blieb in Geesthacht und quartierte mich bei den Eltern meiner Verlobten ein.  Wie oft saßen wir in der Schummerstunde am Fenster? Meine Schwiegermutter las die Zeitung bis zum letzten Schützenlicht und dann klönten wir über Gott und die Welt und die alten Zeiten im Pommerland. Ging dann noch der Mond auf, rief meine Schwiegermutter: „Guckt, guckt, Monlein hat nippse mach!“
Wir haben nie nachgefragt woher dieser Spruch kam, aber immer wenn die Mondsichel oder der volle Mond plötzlich hinter den Wolken am Himmel erscheint, spricht es einer von uns aus. „Guck, Monlein hat nippse mach!“

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Pellkartoffeln

Wir waren schon lange ein Liebespaar. Meine spätere Schwiegermutter hatte mich zum Essen eingeladen. Ich mochte sie gern und sie mich auch. Wir haben uns immer gut verstanden. Nur an diesem Tag lief es nicht so gut zwischen uns. Sie fragte mich, ob ich Pellkartoffeln möge, oder ob sie lieber Salzkartoffeln kochen solle? „Och“, meinte ich: „Pellkartoffeln? Damit habe ich als Schulkind meine Drachen geklebt!“
Sie verzog sich ins Schlafzimmer und weinte. Was nun? Ich bin hinterher gegangen, habe sie in den Arm genommen und gesagt, dass es wirklich so war und ich es nur erzählen wollte, wie es damals auch ohne Klebe ging und dass ich Pellis sehr gerne esse. Die Situation war gerettet, auch die ein halbes Jahrhundert andauernde Erinnerung an damals, immer wenn ich Pellkartoffeln pule.

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Schlafen gehen

Oft beim ins Bett gehen, nach einem langen und anstrengenden Tag, sagen wir uns: Wie sagte doch damals Christiane: „Die schönste Sache auf der Welt ist das Schlafengehen!“ Oder im Winter, wenn wir kurz vorm Schlafengehen noch einmal die Heizung aufdrehen: „Wie gut, dass wir keine Russen sind und auf dem Ofen schlafen müssen.“ Der Spruch stammt von unserer Oma. Und so begleiten uns die beiden immer mal wieder ins Schlafzimmer, wenn auch nur in unseren Köpfen.

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im Reisebus nach Polen

Auf unser Posaunenchorreise 2001 nach Südpolen saß, zwei Sitze vor uns, Ruthchen. Sie gehörte zu dem, so von uns genannten, Fanclub. Eine sehr selbstbewusste Rentnerin mit schneeweißem Kurzhaarschnitt. Ihre Sitznachbarin war dagegen eher schüchtern und hörte sich geduldig die Weisheiten von Ruthchen an. Wir auch, weil, Ruthchen war nicht zu überhören. Also: „Die Supermärkte verdienen sich an Zahnpasta dumm und dösig! Warum? Versuch du mal eine Zahnpastatube bis auf den Rest auszudrücken… siehste kriegste nicht hin! Musst du wieder ne neue kaufen! Obwohl in der alten noch ne Menge drin ist“
Sie hatte ja recht!
Und woran denke ich, wenn ich den vermeintlichen Rest aus der Tube drücke und dann eine frische Tube aus dem Schrank nehme? Richtig! An Ruthchen! Immer und immer wieder.

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Joghurt

Zum Nachtisch gibt es bei uns fast immer den Fruchtjoghurt von Feinkost ALDI. Den kleinen im Achterpack. Wir wechseln immer mal zwischen Kirsch, Himmbeer oder Maracuja.
So, die Silberfolie abziehen, den Löffel in die weiße Köstlichkeit tauchen und sofort ist mein Kollege, der Schriftsetzermeister Alfred mit am Tisch. Oder eher noch: am Joghurt.
In der Druckerei saßen wir damals zur Frühstückspause alle um einen Tisch. Jeder wickelte sein Frühstück aus dem Silberpapier. Nur Alfred löffelte genussvoll seinen Joghurt. Nie versäumte er uns zu erzählen, dass er seinen Joghurt nicht umrühre, weil er dann als Belohnung zuletzt die süße Frucht essen kann.
Das ist nun über dreißig Jahre her. Ich rühre jeden Mittag meinen Joghurt um, wobei mir Alfred über die Schulter guckt. (Könnte es sein, dass damit das „Ewige Leben“ gemeint ist?) Sicher nicht, eher wohl: Verfolgungswahn.

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und noch mehr Zwangvorstellungen…

Auf dem Radweg, morgens beim Laufen an der Elbe, kommen wir, Ingrid und ich, an  Betonpfeilern vorbei. Ich bleibe dann zurück, weil, der Durchgang ist für zwei Personen zu eng. Und woran muss ich dann jedes Mal denken? Jedes Mal! Selbst auf dem Rückweg!auf dem Radweg an der Elbe
Ich sehe vor meinem inneren Auge die Betonpfeiler auf unserer Wanderung zum Lilienstein im Elbsandsteingebirge. Auch dort gelangten wir an solche häßlichen, grauen „Behinderungen“ aus Beton. Auch dort ging ich hinter Ingrid durch die Wegenge.
Warum muss ich immer wieder auf dem morgendlichen Weg zum Krümmel an die Wanderung in der Sächsischen Schweiz denken? Ich nehme mir immer wieder vor, nicht daran zu denken. Und schon dieses Vornehmen löst diese Zwangsneurose wieder aus.

Ganz anders geartet, meine Zwangsneurose beim Zwiebel pellen.
Immer mal wieder bereite ich das, von Ingrid geliebte Hamburger Gericht
„Himmel und Erde“ vor. Dafür muss ich Zwiebel pellen und schneiden.Zwiebeln, damit die Tränen fließen
Habe ich die erste Schicht, die braune Pelle entfernt und die „nackte“ Zwiebel in der Hand, überfällt mich die Erinnerung an Jutta. Sie war Haushaltshilfe bei einem  befreundeten Ehepaar. Die erzählten uns: „Unsere liebe Jutta ist so ordentlich und auf Reinlichkeit bedacht, sie spült sogar die Zwiebeln nach dem Pellen unter kaltem Wasser.“
Ne, ich mache das nicht, aber es geht mir jedes Mal durch den Kopf, und das nun schon seit etlichen Jahren.

Nur selten setze ich mich morgens auf die Bettkannte, um die Socken anzuziehen. Ich ziehe sie mir im Stehen an.
Schon muss ich an Hinnerk denken. Hinnerk war mein Bettnachbar im Krankenhaus. Wir waren etwa gleichaltrig. Die Visite war durch, er durfte nach Hause. Hinnerk hatte seine Sieben Sachen gepackt, nun zog er sich analte Socke.
Er humpelte zu meinem Bett herum und fragte mich: „Kannste das auch?. Meine Kumpels können das alle nicht?“ Dabei stand er auf einem Bein und zog sich seine Socken an. Toll! Im Stehen Socken anziehen! Nun gut, ich habe ihm Anerkennung gezollt. Er war stolz!
Und ich hatte mir eine Neurose eingefangen: Es vergeht kein Morgen, ohne dass ich beim Anziehen an Hinnerk denken muss.
Selbst am Strand von Møn, wenn ich mich beim Socken anziehen im weichen Sand lieber hinsetze, ist mir Hinnerks Kunststück gegenwärtig.

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Der braune Stuhl im Plattenhaus

Es ist das daumendicke Loch in der Sitzfläche des Stuhles, das mir eine Kerbe im Gedächtnis hinterlassen hat.
Richtig kalter Winter und kaum Holz zum Heizen. Das wenige Brennholz, das sich auftreiben ließ, wurde in der Küche zersägt und gespalten. Als Sägebock mußte der Stuhl von Oma herhalten.
Ein orkanartiger Sturm hatte für reichlich Bruchholz im nahen Wald gesorgt. Wir hatten eine Fichte nach Hause geschleppt und waren nicht dabei erwischt worden, denn Holz aus dem Wald zu holen, war verboten.
Nun zurück in die Küche: Den Fichtenstamm konnte man mit einem Knie gegen die Stuhllehne drücken und dann mit der stumpfen Säge das nasse Holz in handgerechte Stücke zergniedeln. Immer wieder fraß sich die Bügelsäge fest, weil sie schief gehalten wurde, weil das Holz zu frisch war, weil, wenn zwei sägten, der eine nach links und der andere nach rechts verkanntete. Und dabei geschah es dann:
Der Stamm drehte sich um seine eigene Achse, und ein Ast fuhr mit trockenem „Knacks“ in die Sperrholzsitzfläche. Ein sauberes Loch. Mein Daumen paßte hindurch.
Im Plattenhaus hatte damals jeder seinen eigenen Stuhl. Ich weiß nicht mehr, wie meiner ausgesehen hatte. Sie waren alle verschieden… oder habe ich auf der Couch gesessen?
Egal… doch den braunen Stuhl von Oma, mit dem kreisrunden Loch in der Sitzfläche, den sehe ich vor mir, als könnte ich ihn vom Boden holen und ihn unseren Kindern zeigen.

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Der alte Mann, das Lied von Robinson, die Mutter meines Schulfreundes und die Eichenlaube

Vor unserem Plattenhaus links standen drei Eichen und ein Faulbeerbaum. Die bildeten eine grüne Laube und waren wunderbar zum Klettern geeignet.
Es muß im Spätsommer gewesen sein. Ich saß in der Krone der einen Eiche, war rundherum mit mir zufrieden und sang, so laut ich konnte:
„Robinson, Robison fuhr mal mit ´nem Luftballon und als er wieder ´runter kam, da war er wieder da… das war das erste Lied, nun folgt das zweite Lied: Robinson. Robinson fuhr mal mit ´nem Luftballon…“
Ein alter Mann, er wohnte im Wandsbeker Stieg, kam vorbei. Er hatte immer einen langen, schwarzen Mantel an und auf dem Kopf eine braune, lederne Motorradkappe.
Er blieb stehen, hörte sich die x-te Strophe an und rief zu mir herauf:
„Welch herrliches Talent in unseren niederen Gefilden!“
Das gab mir Auftrieb.
Ich weiß nicht mehr, ob ich die hundert Verse voll gemacht habe, aber die  Mutter meines Schulfreundes Wolfgang, sie wohnten etwa zehn Häuser weiter, erzählte anderentags meiner Mutter, daß sie völlig entnervt das Tabakblätterauffädeln in die Wohnung verlegt hätte, weil sie meine Singerei an den Rand des Wahnsinns gebracht habe.

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